Der Igel von Fürstenberg
Die Burg Lichtenfels war im fünfzehnten Jahrhundert im Besitz der Grafen von Waldeck und wurde von ihnen mit Vorliebe als Jagdschloss benutzt. Hausten doch damals in den umliegenden Wäldern Eber und Hirsche in großer Menge, zeitweise sogar Wölfe.
Einst hielt Heinrich der Eiserne Jagdeinkehr auf Schloss Lichtenfels und machte reiche Beute. Am letzten Jagdtag verfolgte er einen starken, geweihten Hirsch. Eine große Meute von Hunden trieb ihm das edle Wild wiederholt zu, aber weder mit dem Speer noch mit der Armbrust konnte er es erreichen. So waren der Graf und der Hirsch dicht vor den Mauern Fürstenbergs angelangt und eben öffnete der Wächter das Tor, um den Kuhhirten mit seiner Herde einzulassen, da suchte der Hirsch, der von seinen Verfolgern arg bedrängt wurde, seinen Weg mit der Herde durch das Tor in die Stadt.
Fürstenberg war in jener Zeit mit einer hohen Schutzmauer umgeben, die nur eine niedrige Stelle hatte. Trotzdem konnte niemand an dieser Seite die Stadt stürmen, weil sich außerhalb der Mauer ein Felsvorsprung befand, der noch heute Klippe genannt wird, und der jäh zum Heinbachtal abfiel.
Der Hirsch jagte durch die Gassen. Plötzlich erblickte er die niedrige Stelle der Mauer. Mit einem Sprung setzte er über die hinweg und Herr Heinrich, der tollkühne Reiter, hinterdrein. Auf einmal bäumte sich sein Ross und war nicht von der Stelle zu bringen.
Der Graf stieg ab und sah, dass sein Pferd vor einem Igel scheute, der zu seinen Füßen lag. Als er sich nach dem Hirsch umschaute, war nichts von ihm zu sehen. Da erst bemerkte er den furchtbaren Abgrund dicht vor sich und sah den Hirsch zerschmettert unten im Heinbachtale liegen. Hätte das Pferd nicht vor dem Igel gescheut, so wäre dem Jäger dasselbe Los beschieden gewesen. Der stolze Graf kniete nieder, dankte Gott und gelobte für seine wunderbare Rettung eine Wallfahrt nach dem heiligen Lande, die er auch später ausführte. Den Igel aber nahm er in seine Obhut, bestieg wieder sein Pferd und setzt über die Mauer zurück in die Stadt. Dort ließ er den Bürgermeister rufen und befahl ihm, den Igel in seine Pflege zu nehmen. Gleichzeitig gab er ihm einen größeren Geldbetrag, dessen Zinsen der Wartung des Tieres dienen sollten. Auch bestimmt er, dass von dem Überschuss alljährlich am Tage seiner Rettung in Fürstenberg ein Volksfest gefeiert würde, wobei der Igel an einer goldenen Kette umher geführt werden solle, um allen Leuten zu zeigen, dass Gott selbst das geringste Tier als sein Werkzeug benutzt.
Noch heute feiern die Fürstenberger in jedem Jahre zur schönen Sommerszeit ihren Markt; jedoch ist vielen nicht bekannt, dass dies zum Gedächtnis an die wunderbare Rettung des Grafen geschieht.
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Text aus: „Aus der waldeckischen Heimat", Heft 1, Erzählung nach Alexander Opper, Alt-Waldeck.