Eine Großmutter
Ich möchte hier die im Buch „ Landauf, landab“ abgedruckte Geschichte nicht Wort für Wort wiedergeben, sondern die, wie wir es in Neudeutsch ausdrücken, zugrunde liegende Message wiedergeben.
Vor hundert Jahren - Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts – wanderten viele europäische Bürger nach Amerika aus, in der Hoffnung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein Auskommen und das Glück zu finden. Und viele von Ihnen schafften es in der Tat auch, dass es ihnen im fernen Amerika besser ging als zuvor hier in Europa.
So reiste auch eine junge Familie aus dem Waldecker Land zusammen mit der Mutter nach Amerika aus. Sie fand in Chicago ein neues Zuhause und Arbeit. Es ging ihnen gut. Die jungen Leute konnten sich in der neuen Heimat gut zurecht finden und lernten sich in der dortigen Umgangssprache auszudrücken. Ihren Kindern fiel dies noch wesentlich leichter, da sie dort mit der englischen Sprache aufwuchsen. Schwerer hingegen fiel es der Großmutter sich mit der Sprache und der neuen Heimat anzufreunden. Sie lernte nur einige wenige englische Worte (Brocken) und sprach im Familienkreis in ihrer Heimatsprache. Kurzum sie sprach deutsch, dachte in Deutsch und sehnte sich nach ihrer alten und einzigen Heimat.
Die Kinder der Familie wuchsen in der Obhut der Großmutter auf und so lernten sie neben der englischen Sprache auch die deutsche Sprache kennen. Sie waren letztlich in der deutschen Sprache ebenso sicher wie in der englischen. Aber sie lernten durch ihre Großmutter nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, die Sitten, die Poesie, Geschichten, Märchen und Sagen aus der alten Heimat kennen.
In stiller Dämmerstunde saß die Großmutter in ihrem weichen Sessel und um sie herum hockten die Enkelkinder. Ganz wie es früher hier in der waldeckischen Heimat Sitte war. Während die alte Frau behände strickte, erzählte sie den Kindern die alten Märchen und Sagen aus ihrer Heimat, die sie selbst als Kind gehört hatte und die Enkel hörten gespannt und aufmerksam zu. Nicht genug konnten sie von diesen Geschichten hören und bedrängen die Frau immer wieder aufs Neue Geschichten zu erzählen. Ganz, wie es die Großmutter von daheim her kannte.
Und nicht nur die Kinder hörten der alten Frau gespannt zu, auch die Schwiegertochter hielt ab und zu inne und lauschte der Worte, die ihr auch noch aus ihren Kindertagen wohl bekannt waren und die in ihren Gedanken die alte Heimat mit Bildern aus dieser Zeit wieder in Erinnerung brachten. Wird auch sie einmal ihren Enkeln diese Geschichten erzählen, wie es ihre Schwiegermutter tut?
Auch uns Kindern hat meine Mutter und meine Oma Geschichten, Märchen und Sagen erzählt. Wir saßen dabei in der Küche oder im Wohnzimmer und lauschten gespannt den Worten. Später haben meine Frau und ich diese überlieferten Geschichten und Märchen unseren Kindern erzählt. Auch diese haben aufmerksam und gebannt den Worten gelauscht und immer wieder wollten sie mehr davon hören. Wenn wir heute auf diese Stunden zu sprechen kommen, leuchten ihre Augen wieder auf und sie erinnern sich nicht nur an die alten Märchen, sondern verknüpfen dies mit Bildern und Empfindungen aus der Kindheit. Ich bin mir gewiss, dass auch meine Kinder ihren Kindern die Märchen wieder erzählen und meine Enkel ebenso gespannt und interessiert den Worten lauschen werden.
Die Faszination Märchen ist heute genau noch so wie vor hundert Jahren und davor.
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Geschichte von Christian Fleischhauer aus dem Buch "Landauf, landab!"