Die Kraftprobe

Im schönen Hessenlande, aus grünem Buchenwald,
Da ragt in ihren Trümmern die Weidelsburg, so alt.

Und drüben, auf der Höhe, am schönen Ederstrand,
Da blick vom steilen Felsen Burg Waldeck in das Land.

Dort in den Burgen hausten zwei Ritter, ehrenwert;
Sie liebten Wein und Minne, die Fehde und das Schwert.

Graf Heinrich hieß der eine, der dort am Ederstrand,
Und Reinhard wohl der and´re, der dort im Hessenland.

Sie waren strarke Recken, die beiden edlen Herrn,
Doch, wer der Stärkere wäre, das wüßten beide gern. -

Es war ein Sommermorgen, gar wonniglich und warm,
Da klopft´s an Waldecks Tore mit wuchtig starkem Arm,

Und auf den Schloßhof schreitet ein Knecht von Reinhards Troß
Und schaut mit schlauem Auge hinauf zum Grafenschloß.

Er lehnt sich fein bedächtig auf einen Eisenstab,
Vierkantig, fest, geschmiedet, den ihm Herr Reinhard gab,

Und spricht, zum Graf gewendet, der auf dem Söller steht:
„Euch bietet Gruß und Handschlag, Herr Graf, mein Herr! - und seht,

Er sendet Euch ein Stäblein, von Eisen, fest und gut,
Läßt Euch zur Probe fordern mit frischem, frohem Mut:

Wer dieses Stäblein bieget, ob Ihr, ob er, ganz gleich,
Der soll als Stärkster gelten in beider Burgbereich!“ -

Graf Heinrich lächelt listig, als ihm die Kunde ward
Und streichelt sinnend, träumend, den langen blonden Bart,

Und heischet *), zu bewirten den müden Wandersmann,
Auf daß er, neugekräftet, den Heimweg machen kann.

Doch durch des Schlosses Hallen dringt rasch die selt’ne Mär; -
Wie wird der Graf bewahren des Hauses Ruhm und Ehr?

So fragt besorgt ein jeder, ob Ritter oder Knecht;
Neugierig steht nicht minder das weibliche Geschlecht.

Der Fremde, neugestärket, tritt zu dem großen Hauf,
Rühmt seines Herren Stärke - und schneidet wacker auf.

Da schreitet aus der Halle der Graf im Eisenkleid,
Faßt flugs mit Eisenhänden die Stange lang und breit.

Er legt sie auf die Schulter dem Boten derb und flink
Und biegt sie vorn zusammen zu einem selt’nen Ring.

Der Fremde knickt zusammen beim Druck der Eisenfaust,
Indeß in weiter Runde des Trosses Jubel braust.

Er faßt, zum Tod erschrocken, an seines Halses Schmuck,
Er prußtet, zerrt und reißet, vergebens jeder Ruck.

Drauf spricht der Graf mit Lachen: „Nun grüß‘ Herrn Reinhard mir
Und zeige sonder Säumen ihm deine stolze Zier,

Und sag‘ ihm, wenn er löse dich von dem Eisenring,
Sei gegen seine Stärke die meine nur gering!“

Und dann zu seinem Schenken: „Nun einen tücht’gen Schluck,
Der kräftige den Träger vom selt’nen, schweren Schmuck!“ -

Am andern Tage pochet - es war gar sonnig warm -
Es an Schloß Waldecks Pforte mit müdem, schwachem Arm,

Und auf den Schloßhof schreitet und vor den Grafen tritt
Des Herrn von Dalwigk Bote mit müdem, schweren Schritt:

„Herr Graf, vergebens mühte Herr Reinhard seinen Arm,
Ich bitt Euch, löst mich wieder aus Qual und bitterm Harm!“

Laut lachend löst Herr Heinrich den Knecht aus seiner Haft,
Er biegt den Ring von Eisen zurück mit Riesenkraft,

Läßt sich den Boten letzen **) mit Fleisch und Brot und Wein
Und lädet bei Herrn Reinhard sich drauf zu Gaste ein:

„Wenn heut‘ die Sonne sinket dort über Berg und Tal,
Bin ich in Stahl und Eisen bei euch im Abendstrahl,

Wir halten in der Halle bei Wein ein froh Turnei ***),
Der Morgen mag uns künden, wer da der Stärk’re sei!“
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(Gedicht von Chr. Fleischhauer - Nach einer Sage
Aus: Waldeckisches Heimatbuch, 1. Teil: Geschichte, von Chr. Fleischhauer, Verlag Chr. Hundt, Bad Wildungen 1906)

Worterklärungen
*) heischen - bitten, fragen, fordern
**) letzen - laben, erquicken
***) Turnei - Ritterspiel bei Turnieren. Wurde meist mit stumpfen Waffen ausgetragen